Holocaust-Überlebender „Hitlerjunge Salomon“ besuchte Osnabrücker Schule mehrfach. Bewegende Begegnungen. Perel verstarb vor einer Woche in seiner Heimat Israel. EFS auch Paten für Stolpersteine der Familie Schoeps.
Die Evangelischen Fachschulen Osnabrück (EFS) gedenken Sally Perel. Der Shoah-Zeitzeuge war vergangene Woche in seiner Heimat Israel gestorben. Er besuchte die Fachschulen in der Vergangenheit des Öfteren. Im Rahmen einer Gedenkandacht, organisiert von Pädagoge Dietmar König und weiteren jetzigen und früheren Lehrkräften der Schule wurde seiner unermüdlichen Arbeit gegen das Vergessen und für Toleranz gedacht.
Buch und Film „Hitlerjunge Salomon“
Dietmar König erinnert sich: „Sally Perel war mehrfach in unserer Schule, so wie an vielen, vielen anderen Schulen, um als Zeitzeuge aus seinem Leben zu erzählen. Er berichtete uns, wie er in der Nazidiktatur, um als Jude zu überleben, in seiner Todesnot zum Hitlerjungen Josef wurde. Wenn Sally erzählte, war es immer mucksmäuschen still. Die etwa 250 SchülerInnen und Lehrkräfte der EFS, die etwa 2011 und 2015 zugehört haben, waren von seinen Schilderungen bewegt und in den Bann gezogen. Über seine Erlebnisse hatte er das Buch: „Hitlerjunge Salomon“ geschrieben. Viele von uns haben das Buch gekauft und von Sally signieren lassen. Wir mussten lange dafür anstehen, so groß war die Warteschlange.“
Perels Buch wurde 1990 unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ verfilmt. Mit seinen Vorträgen wollte Sally Perel bei der Jugend ein kritisches Bewusstsein schaffen, gegenüber einer erneuten „braunen Gefahr“, die den Holocaust leugnet. „Ich habe mir geschworen, für die Wahrheit zu kämpfen, als ich die Kinderschuhe in Auschwitz sah“, sagte er zu uns.
„Ich glaube, dass alle es wussten!“
Von einer Schülerin wurde er gefragt, ob es stimmen könne, dass so viele von der Ermordung der Juden nichts gewusst hätten? Perel antwortete: „Ich glaube, dass alle es wussten! Das ,Ich habe nichts gesehen, kann ich nicht akzeptieren.‘ Sally wollte aber keine Schuldgefühle wecken. Er sagte: „Ich will mit Wahrheit den Verstand erleuchten: ein erster Schritt zu einer besseren Welt, die ich euch wünsche und gönne.“
„Wir müssen Sallys Geschichte immer wieder erzählen!“
Lehrerin Verena Jannaber fügt hinzu: „Ich hatte das große Glück, Sally Perel hier an den EFS zu erleben. Ich war noch nicht lange hier an der Schule und war überrascht, wie voll die Aula hier werden kann. Ich saß ganz hinten am Fenster. Die Aula war – wie schon gesagt – sehr voll. Trotzdem konnte ich Sally gut verstehen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so ruhig war es. Wir alle wollten seine Geschichte hören. Nein, anders: Wir mussten seine Geschichte hören. Und wir alle müssen sie weiterhin hören: Wir leben in Zeiten, in denen ein bekannter Politiker den Nationalsozialismus nur einen „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ nennt. Wir leben in Zeiten, in denen Kinder von ihren Eltern instrumentalisiert werden, sich auf eine Bühne zu stellen und sich mit Anne Frank zu vergleichen, weil sie im Lockdown den Kindergeburtstag nicht feiern konnten. Wir leben in Zeiten, in denen zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eine Partei mit 2/3 ihrer Abgeordneten nicht an der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag teilnimmt. Wir müssen Sallys Geschichte nicht nur weiterhin hören, sondern wir müssen sie vor allem weiterhin erzählen. Das sind wir Sally schuldig. Und uns auch.“
„Authentisch und offen“
Die ehemalige EFS-Lehrerin Gertrud Meinzer ergänzt: „Sally Perel war ein unermüdlicher Mahner, dem es ein Anliegen war, bei jungen Menschen ein kritisches Bewusstsein anzuregen und zu stärken gegen politische Verführung und für Respekt und Toleranz. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit. Es gelang ihm immer, die SchülerInnen und Studierenden zu fesseln mit seiner Lebensgeschichte. Er erzählte anschaulich und emotional eindrücklich. Das löste auch immer Fragen aus, auf die er offen und authentisch einging. Mich hat jedes Mal beeindruckt, dass er in seinem Alter noch diese Lesungen vor einem großen Publikum auf sich nahm. Es kam mir vor, als ob ihn die Auseinandersetzung mit den jungen Menschen innerlich jung hielt.“
EFS Paten für Stolperstein der Familie Schoeps
Zudem gedachten die EFS in der Andacht weiteren Opfern des Terrors zur NS-Zeit. Die Schule unterstützt die Aktion Stolpersteine, ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das im Jahr 1992 begann. Stolpersteine sind Gedenktafeln aus Messing und erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. Sie werden in den Gehwegen vor den letzten selbst gewählten Wohnorten der Jüdinnen und Juden, Sinti, Roma, Deserteure, Menschen, die aus politischen oder religiösen Gründen, wegen ihrer sexuellen Orientierung, einer Erkrankung oder Behinderung ermordet wurden, verlegt. Die EFS haben 2012 die Patenschaft für den Stolperstein von Simon-Siegbert Schoeps übernommen.
Pädagogin Andrea Manteuffel erinnert an die Geschichte der Familie Schoeps, ehemals wohnhaft Am Kamp 62a in Osnabrück: „Mein Name ist Simon-Siegbert Schoeps. Geboren bin ich in Osnabrück am 28.6.1926. Mit meinen Eltern Hermann und Julie und meiner großen Schwester Margot lebe ich in der Innenstadt von Osnabrück, am Kamp 62a. Margot ist drei Jahre älter als ich. In der Nachbarschaft wohnt mein Freund Arnold, mit dem ich mich gerne zum Spielen treffe.
Es gibt nur wenige Fotos von mir, eines davon haltet ihr in euren Händen. Ich bin darauf 8 Jahre alt.
In der Pogromnacht am 9. November 1938 brennen die Synagogen. Menschen jüdischen Glaubens werden misshandelt, ermordet, vergewaltigt, gedemütigt. Jüdische Geschäfte werden geplündert und zerschlagen. Weil wir jüdischen Glaubens sind, wird mein Vater in dieser Nacht verschleppt und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Da bin ich zwölf Jahre alt. Zu unserer übergroßen Freude wird mein Vater zunächst aus dem KZ Buchenwald wieder freigelassen und kann zurück nach Osnabrück kehren. Diese Freude währt leider nicht lange, denn meine Familie wird 1939 gezwungen, in das sogenannte „Judenhaus“ an der Bramscher Straße umzuziehen. Von da an müssen wir einen Judenstern tragen. All unser Hab und Gut müssen wir zurücklassen. Da bin ich dreizehn Jahre alt.
Ermordet in Riga und Buchenwald
Zwei Jahre leben wir dort, dann werden wir am 13.12.1941 zusammen mit anderen Osnabrücker Juden in Zugwaggons gepfercht und nach Riga deportiert. Wir haben Hunger, uns ist kalt, wir haben große Angst. Da bin ich 15 Jahre alt. Von den in diesem Zug deportierten 1031 Menschen werden nur 102 überleben. Auch meine Eltern und meine Schwester Margot werden in Riga ermordet. Ich werde von Riga weiter in das KZ Buchenwald deportiert.
Am 27.3.1945, 6 Wochen vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, werde ich im KZ Buchenwald ermordet. Da bin ich 18 Jahre alt. Auf einem Stolperstein wird an meinen Namen und den meiner Eltern und meiner Schwester erinnert, damit unsere Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Ihr findet ihn vor meinem Elternhaus, am Kamp 62a. Mein Name ist Simon-Siegbert Schoeps. Erinnert euch an meinen Namen.“
Über Sally Perel
Salomon, genannt „Sally“, Perel wurde in Peine geboren. Nachdem ihr Schuhgeschäft von den Nazis verwüstet wurde, zog die Familie Perel 1938 ins polnische Lodz. Während des Zweiten Weltkriegs fiel er 1941 auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion deutschen Truppen in die Hände. Der Erschießung entging Sally nur, weil er perfekt deutsch sprach und sich als Volksdeutscher ausgeben konnte. So gelang es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern. Seine wirkliche Identität wurde von einem Kameraden an der Front aufgedeckt, der als Homosexueller Interesse an Sally Perel hatte. Als er erkannte, dass Perel Jude war, versicherte er ihm, ihn nicht zu verraten. Diese Freundschaft half Perel zu überleben. Nach zwei Jahren an der Front wurde er zurückversetzt und kam in eine Schule der Hitlerjugend. Außer Sally Perel und seinen Brüdern Isaak und David überlebte kein Mitglied der Familie den Holocaust. Nach dem Krieg verließ Perel Deutschland. Viele Jahrzehnte lebte er in Israel, ehe er sich entschloss, das Erlebte niederzuschreiben. Seine Geschichte erschien unter dem Titel „Ich war Hitlerjunge Salomon“ 1992 erstmals auf Deutsch. Das Buch wurde 1990 unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ verfilmt. Seitdem hat Sally viele Schulen besucht und Generationen von Schüler*innen von den Gräueltaten der Nationalsozialisten erzählt und wie er der Ermordung entkommen konnte. 1999 erhielt er für seine Bemühungen um die deutsch-israelische Verständigung das Bundesverdienstkreuz.